Balken im Auge
Angenommen, man könnte das Leben eines Menschen auf einer Skala von -100 bis +100 einordnen. Wer bei Minus aufwächst, hat schlechte Rahmenbedingungen und Startbedingungen für sein Leben. (keine Bildungsmöglichkeit, schlechte Gesundheitsvorsorge, Drogenmilieu, …). Bei Plus dagegen ist das Leben geordnet (tolle Schulen gutes Elternhaus, keine finanzielle Not …)
Angenommen, jemand wächst bei -60 auf und schafft es bis zum Ende seines Lebens auf -10 zu kommen. Ein anderer startet bei +50 und erreicht am Ende seines Lebens einen Zuwachs um 10 auf +60.
Was ist nun besser zu bewerten? Niemals kennen wir das Leben eines Menschen so gut, dass wir umfassend über ihn urteilen könnten. Wir sehen nur Ausschnitte seines Lebens, kennen aber oft nicht die großen Linien, die dieses Lebens geprägt und geformt haben.
Franz von Sales gibt einen guten Rat. (Philothea Kapitel 29 über das lieblose Reden)
„Sag nicht: "Der ist ein Trunkenbold'', wenn du ihn einmal betrunken gesehen hast; oder "Der ist ein Ehebrecher", weil du ihn einmal sündigen sahst, noch nenne einen Blutschänder, den du in dieser unseligen Verirrung antrafst. Eine einzige Tat rechtfertigt nicht eine solche Bezeichnung.…
Noe, Lot und Petrus
Noe berauschte sich einmal, ebenso Lot, der dabei sogar in Blutschande verfiel; trotzdem kann man die beiden nicht Trunkenbolde nennen und Lot nicht einen Blutschänder. Den hl. Petrus darf man nicht blutrünstig nennen, weil er einmal Blut vergossen, ebenso nicht einen Flucher, weil er einmal einen Fluch ausgestoßen hat.
Um ein Laster oder eine Tugend mit Recht als Beinamen zu erhalten, muss man darin fortgeschritten sein und sie gewohnheitsmäßig üben. Es ist also eine Verleumdung, jemand einen Dieb oder Jähzornigen zu heißen, weil man ihn einmal unehrlich oder zornig gesehen hat. Sogar wenn jemand lange Zeit hindurch lasterhaft war, läuft man Gefahr zu lügen, wenn man ihn lasterhaft nennt.
Die Sünde von gestern
Simon, der Aussätzige, nannte Magdalena eine Sünderin (Lk 7,39), weil sie es früher war; er sagte aber trotzdem die Unwahrheit, denn sie war es nicht mehr, sondern eine heilige Büßerin. Der Herr nimmt sie deshalb auch in Schutz. Jener unvernünftige Pharisäer hielt den Zöllner für einen großen Sünder, für einen unehrlichen Menschen, für einen Ehebrecher und Dieb; wie sehr täuschte er sich aber, denn "dieser ging gerechtfertigt nach Hause'' (Lk 18,11 f).
Keine Schlüsse ziehen
Die Güte Gottes ist so groß, dass ein Augenblick genügt, um seine Gnade zu erflehen und zu erlangen; welche Sicherheit haben wir also, dass der Sünder von gestern es auch heute noch ist? Wir können das Gestern nicht nach dem Heute beurteilen und das Heute nicht nach gestern; allein der letzte Tag entscheidet über alle. Wir können also niemals einen Menschen schlecht nennen, ohne Gefahr zu laufen, dass wir lügen. Wenn wir sprechen müssen, dann können wir das eine sagen, dass einer diese bestimmte schlechte Tat begangen, dass er eine gewisse Zeit lang ein schlechtes Leben geführt hat oder eben schlecht handelt; aber wir können nicht von gestern auf heute, nicht von heute auf gestern und noch weniger auf morgen Schlüsse ziehen.“
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