Wem gilt die Bergpredigt? Teil 6

 

Mt 6, 24-34     Samstag, 11. Woche

 

In jener Zeit sprach Jesus zu seinen Jüngern: Niemand kann zwei Herren dienen; er wird entweder den einen hassen und den andern lieben, oder er wird zu dem einen halten und den andern verachten. Ihr könnt nicht beiden dienen, Gott und dem Mammon. Deswegen sage ich euch Sorgt euch nicht um euer Leben und darum, dass ihr etwas zu essen habt, noch um euren Leib und darum, dass ihr etwas anzuziehen habt. Ist nicht das Leben wichtiger als die Nahrung und der Leib wichtiger als die Kleidung? Seht euch die Vögel des Himmels an Sie säen nicht, sie ernten nicht und sammeln keine Vorräte in Scheunen; euer himmlischer Vater ernährt sie. Seid ihr nicht viel mehr wert als sie? Wer von euch kann mit all seiner Sorge sein Leben auch nur um eine kleine Zeitspanne verlängern? Und was sorgt ihr euch um eure Kleidung? Lernt von den Lilien, die auf dem Feld wachsen Sie arbeiten nicht und spinnen nicht. Doch ich sage euch Selbst Salomo war in all seiner Pracht nicht gekleidet wie eine von ihnen. Wenn aber Gott schon das Gras so prächtig kleidet, das heute auf dem Feld steht und morgen ins Feuer geworfen wird, wie viel mehr dann euch, ihr Kleingläubigen! Macht euch also keine Sorgen und fragt nicht Was sollen wir essen? Was sollen wir trinken? Was sollen wir anziehen? Denn um all das geht es den Heiden. Euer himmlischer Vater weiß, dass ihr das alles braucht. Euch aber muss es zuerst um sein Reich und um seine Gerechtigkeit gehen; dann wird euch alles andere dazugegeben. Sorgt euch also nicht um morgen; denn der morgige Tag wird für sich selbst sorgen. Jeder Tag hat genug eigene Plage

 

6. Teil: aus G. Lohfink, Wem gilt die Bergpredigt, 59 – 63

 

Die Christen und der Staat

Es bleibt freilich ein schwerwiegendes Problem, das zum Schluss …wenigstens noch angedeutet werden soll. Alles, was bisher gesagt wurde, war ja so formuliert, als würde der Jünger Jesu ausschließlich im Volk Gottes leben. Aber in Wirklichkeit lebt er bis zur Wiederkunft Christi gleichzeitig in einer höchst pluralistischen Gesellschaft, die gar nicht daran denkt, nach den Weisungen der Bergpredigt zu handeln. Sie darf es nicht einmal uneingeschränkt, denn dass ein Richter nicht nach Mt 5 Recht sprechen kann, liegt auf der Hand. Analoges gilt für viele andere Funktionen innerhalb der Gesellschaft. Solange unsere Welt im Ganzen so ist, wie sie ist, kann kein Staat ohne kanalisierte und legitimierte Gewalt existieren. Auch ein Rechtsstaat muss die Gesetzesbefolgung notfalls durch staatliche Gewalt erzwingen. Genau an dieser Stelle liegt die - einsei­tige - Wahrheit des Zitats aus jenem Schweizer Katechismus: Wenn ein Staat sein eigenes Recht nicht mehr mit dem Einsatz von Gewalt durchsetzen kann, öffnet er dem Chaos Tür und Tor. (Genau an dieser Stelle liegt übrigens auch die - relative - Wahr‑

heit der Position Solschenizyns, die oben beschrieben wurde.) Im Staat Verantwortung übernehmen impliziert also Teilnahme an der Gewalt. Es ist eine kanalisierte, eingegrenzte, rechtlich defi­nierte und damit rational durchleuchtete Gewalt - aber es ist Ge­walt.

Was soll nun der Christ tun? Nicht nur, dass er der Gesell­schaft insgesamt nicht entfliehen kann: er muss darüber hinaus im Staat Verantwortung übernehmen - andernfalls würde er sich in einer Nische der Gesellschaft ansiedeln und könnte von den anderen kaum ernst genommen werden. Übernimmt er aber Ver­antwortung, so beteiligt er sich, ob er will oder nicht, an der kana­lisierten Gewalt. Was soll er also tun?

Wenn im folgenden - zögernd und vorsichtig - eine Antwort auf diese drängende Frage versucht wird, so überschreitet sie teilweise die Kompetenz des Neutestamentlers. Denn das Neue Testament gibt auf die gestellte Frage noch keine Antwort. Das Neue Testament schärft zwar das Recht des Staates ein und for­dert zur Loyalität gegenüber der Obrigkeit auf (vgl. vor allem Röm 13,1-7; 1 Petr 2,11-17) — aber es rechnet nicht damit, dass Christen Verantwortung im Staat übernehmen.

Noch der Christengegner Celsus kann die scharfe Frage for­mulieren, ob die Christen denn nicht die Absicht hätten, dem Kaiser in dem, was rechtens sei, beizustehen, für ihn zu kämpfen, mit ihm zu Felde zu ziehen und öffentliche Ämter zu überneh­men, um die Gesetze zu schützen. Origenes antwortet Celsus fol­gendermaßen: Die Christen nähmen als Priester und Diener Gottes dadurch an den kaiserlichen Feldzügen teil, dass sie zu Gott für die gerechte Sache beteten; und Ämter übernähme man nicht im Staat, sondern in der Kirche und diene gerade so dem Wohl aller Menschen. Wenn die Christen die Übernahme staatli­cher Ämter ablehnten, dann nicht deswegen, weil sie sich öffent­lichen Verpflichtungen entziehen wollten, „sondern um sich für den göttlicheren und notwendigeren Dienst an der Kirche Gottes zum Heil der Menschen zu erhalten"

Diese Antwort ist höchst beachtlich, weil sie genau im Sinn des Neuen Testaments die eigentliche Funktion der Kirche her­ausstellt: Die Kirche dient der Welt am besten, wenn sie ihre Aufgabe, ein heiliges Volk im Sinn von 1 Petr 2,9 f zu sein, radikal ernst nimmt. Gerade indem sie selbst die Gesellschafts- und So­zialordnung Gottes (sprich: Bergpredigt) zeichenhaft lebt, ist sie das „Salz der Erde". Es ist äußerst fragwürdig, wenn nicht we­nige engagierte Christen heute so tun, als seien Weltverantwor­tung und Weltveränderung nur jenseits und außerhalb von Kirche möglich.

 

So notwendig es ist, die Ordnung der Gerechtigkeit in der Gesellschaft durchsetzen zu helfen — das spezifisch Christliche ist damit noch nicht erreicht.

So notwendig und richtig es ist, den „Geist der Bergpredigt" durch Minimierung von Gewalt in die Strukturen der Welt einzubringen — er kann dort doch immer nur so weit zur Geltung kommen, wie die Welt ihn zulässt.

So notwendig, richtig und gut es ist, in der Welt radikale Zeichen der Gewaltlosigkeit zu setzen — solange diese Zeichen lediglich von Einzelnen gesetzt werden, haben sie nur eine begrenzte Wirkung. Es käme darauf an, dass ein ganzes „Volk" zum Zeichen der absoluten Gewaltlosigkeit wird.

Genau das will Jesus. Er will, was Gott schon immer mit Israel gewollt hat: dass die Herrschaft Gottes in einem bestimmten Volk aufleuchten und über dieses Volk alle Welt erleuchten soll; dass es eine "Gesellschaft" in der Welt gibt, an der man ablesen kann, wie die Lebensordnung Gottes aussieht; dass es eine Jüngergemeinde gibt, die zur Stadt auf dem Berg und zum Licht der Welt wird. Gewaltlosigkeit muss deshalb zunächst einmal in der Kirche gelebt werden. Wenn in den christlichen Gemeinden aus der Gnade Christi und der Kraft des Evangeliums heraus die Rivalitäten abgebaut würden, wenn auf jede Form von Gewalt (auch sublimer Gewalt) verzichtet und brüderlich-schwesterliche Gemeinschaft gelebt würde, dann gäbe es Hoffnung, dass eine solche Lebensordnung auf die Welt ansteckend wirken würde und dadurch auch in der Welt immer mehr Gewalt abgebaut werden könnte. Der beste Dienst, den die Christen der Welt leisten können, ist deshalb der Aufbau lebendiger Gemeinden, in denen die Bergpredigt gelebt und die die-Aufforderung Jesu zum Gewaltverzicht wörtlich genommen wird.

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